Mythen und Vorurteile in der Pflege: Knochenjob mit Sinn?

Systemrelevant, unterbezahlt, verheizt – Beschäftigte in Pflegeberufen arbeiten unter schweren Bedingungen, so das Image. Fakt ist: Sie sind unverzichtbar für unsere Gesellschaft und das nicht erst seit der Corona-Pandemie. Und werden oft nicht genug wertgeschätzt.

Der Job ist verbunden mit einer hohen Verantwortung für andere Menschen und fordert nicht zuletzt durch Schichtarbeit viel von den Beschäftigten. Und selbst wenn wir Corona in irgendeiner Zukunft überwunden oder zumindest in den Griff bekommen haben, steht die Pflege (und unsere gesamte Gesellschaft) immer noch vor den Herausforderungen, die der demographische Wandel mit sich bringt.

Immer mehr von uns werden immer älter, während immer weniger Junge nachkommen. Wir brauchen also in der Zukunft mehr Pflege, während es potenziell immer weniger Menschen gibt, die diesen Job ausführen können – der Pflegekräftemangel wird sich also noch weiter verschärfen. Einen schlechten Ruf aufgrund von strukturellen Mängeln kann sich da niemand leisten.

Auch die Politik hat das Thema auf ihre Agenda gesetzt. Sowohl Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) als auch Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) wollen, dass Pflegekräfte künftig nach Tarif bezahlt werden.

Anlässlich des Internationalen Tags der Pflegenden am 12. Mai machen wir darum den Daten- und Fakten-Check rund um Mythen und Vorurteile in der Pflege.

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Mythos 1: Pflege ist ein Knochenjob

Korrekterweise müsste es heißen: Pflege ist kein Knochenjob, die Bedingungen sind es. Der Deutsche Bundesverband für Pflegeberufe (DBfK) schreibt dazu: „Die pflegerische Versorgung ist in Deutschland gekennzeichnet von Arbeitsverdichtung und hohem Zeitdruck, Priorisierung bzw. Rationierung von Leistung und einem Trend zur Dequalifizierung, meist aus ökonomischen Gründen.“

Eine Umfrage der Arbeitnehmerkammer Bremen unter Pflegekräften, die in Teilzeit arbeiten oder ganz aus dem Job ausgestiegen sind, zeigt unter welchen Bedingungen sie zurückkehren würden. Grundsätzlich, so das Ergebnis der Studie, zeigte ein Großteil der Befragten eine hohe Bereitschaft zur Aufstockung der Stunden oder zur Rückkehr. Das heißt, der Job an sich ist nicht das Problem, sondern das, was strukturell bedingt daraus wird.

Was sich in der Pflege verbessern muss: Bedingungen

Im vergangenen Jahr hat die Bundesagentur für Arbeit erstmals wieder steigende Arbeitslosenzahlen in der Pflege verzeichnet – und das, als eigentlich jede:r Einzelne dringend gebraucht wurde.

Vorurteile in der Pflege: Zahl der Arbeitslosen

Über die Gründe für die steigenden Zahlen lässt sich nur mutmaßen: In ambulanten Pflegediensten könnten etwa Dienste überflüssig geworden sein, weil Familienangehörige die Aufgaben aus dem Home Office selbst übernehmen, so eine Vermutung des DGB. Zudem kursierten im Netz Daten zu 20 angeblich geschlossenen Krankenhäusern, die aber zu großen Teilen lediglich verlegt oder teilweise geschlossen wurden, wie eine Correctiv-Recherche zeigt. Auswirkungen kann das aber natürlich trotzdem haben.

Die steigenden Zahlen ziehen sich allerdings durch alle Bundesländer. Naheliegend ist daher schlicht auch, dass Pflegekräfte aufgrund der Corona-Pandemie gekündigt haben. Weil die Bedingungen vorher schon nicht gestimmt haben und sich die Lage weiter zugespitzt hat.

So gaben in einer Umfrage des DBfK 30 Prozent der befragten Krankenpflegekräfte an, im Corona-Jahr über den „Pflexit“ nachgedacht zu haben. Teilgenommen haben rund 3.500 Befragte bis Dezember 2020. Mehr als jede:r zweite Befragte fühlte sich demnach bei der Arbeit während der Pandemie nicht ausreichend vor Infektionen geschützt. Knapp 14 Prozent gaben an, dass sie in ihrer Einrichtung nicht auf Corona getestet werden.

Mythos 2: Niemand will in der Pflege arbeiten

Stimmt nicht. Die Zahl der Pflegekräfte hierzulande nimmt seit Jahren zu, wie Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen.

Vorurteile in der Pflege: Zahl der Pflegekräfte steigt

Was bei den Zahlen allerdings zu beachten ist: Nahezu jede zweite beschäftigte Person in der Pflege arbeitet in Teilzeit. Dementsprechend sind die Zahlen umgerechnet in Vollzeitäquivalente niedriger: Laut Statistischem Bundesamt gab es 2018 umgerechnet in Vollzeit 476.000 Beschäftigte in der Altenpflege (2012: 369.000) und 809.000 in der Krankenpflege (2012: 717.000).
Bei jungen Menschen ist die Pflege ebenfalls beliebt. So steigt die Zahl der Pflege-Auszubildenden laut Statistischem Bundesamt kontinuierlich.

Vorurteile in der Pflege: Zahl der Pflege-Azubis steigt

Eine Umfrage der Grünen-Politikerin Elisabeth Scharfenberg aus dem Jahr 2016 zeigt, was die Beschäftigten an ihrem Beruf schätzen. So ist es vor allem die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit, die die Pflegekräfte für den Berufsalltag motiviert.

Pflegeberuf gibt den Beschäftigten Sinn – Infografik

Ebenfalls zu den Top-Gründen für die Motivation zählen die Zusammenarbeit mit den Kolleg:innen und das eigenverantwortliche Arbeiten. Auf die Frage, warum sie sich ursprünglich für den Beruf entschieden haben, gaben 98 Prozent der Befragten an, dass sie mit Menschen arbeiten wollten. 96 Prozent sagten, sie wollten etwas Sinnvolles mit ihrer Tätigkeit tun.

Mythos 3: In der Pflege arbeiten nur Frauen

Ja, Frauen sind in Pflegeberufen deutlich in der Überzahl. Der gesamte Arbeitsmarkt ist nahezu paritätisch zwischen den Geschlechtern aufgeteilt, doch sowohl in der Kranken- als auch in der Altenpflege liegt der Anteil männlicher Beschäftigter bei nur 16 und 17 Prozent. Zählt man in der Krankenpflege auch den Rettungsdienst (und Hebammen) dazu, liegt der Anteil der Männer bei 20 Prozent.Vorurteile in der Pflege: Kaum Männer in der Pflege - Balkendiagramm

Wer also den Pflegekräfteengpass in den Griff kriegen will, muss mehr Männer für Pflegeberufe begeistern. Dafür bedarf es einer Aufwertung der Tätigkeit, nicht nur finanziell, sondern eben auch im Ansehen der Gesellschaft. Fürsorgliche Tätigkeiten dürfen nicht als „unmännlich“ gelten.
Immerhin: Unter den Absolvent:innen, die ihre Pflegeberufe-Ausbildung 2019 erfolgreich abgeschlossen haben, lag der Männeranteil bei 23 Prozent – also etwas über dem Anteil, den Männer aktuell am Arbeitsmarkt ausmachen.

Vorurteile in der Pflege: Geschlechterverteilung der Absolventen

Mythos 4: Pflegekräfte sind schlecht bezahlt

Jein. Vergleicht man etwa die Bezahlung in der Krankenpflege mit der im gesamten Arbeitsmarkt, zeigt sich, dass das mittlere Entgelt sogar ganz leicht über dem gesamten Mittel liegt. Beschäftigte in der Altenpflege liegen aber deutlich darunter.Vorurteile in der Pflege: Medianbruttomonatsgehalt von Pflegekräften

Beschäftigte in der Krankenpflege verdienten 2019 in Vollzeit laut Bundesagentur für Arbeit im Mittel rund 3.500 Euro. Beschäftigte in der Altenpflege lagen bei 2.800 Euro.

Wenn man beachtet, wieviel Verantwortung die Pflegerinnen und Pfleger für andere Menschen tragen, unter welchen Bedingungen sie arbeiten und dass sie einen Beruf mit einem absoluten Mangelprofil besetzen, müssten die Zahlen, vor allem in der Altenpflege, allerdings höher sein. Zudem sind in der Pflege viele Menschen teilzeitbeschäftigt, sodass allein deshalb schon lediglich etwa die Hälfte der Beschäftigten überhaupt auf die genannte Summe kommen dürfte.

Die geringe Bezahlung, vor allem in der Altenpflege liegt allerdings auch in der Beschäftigtenstruktur: Insgesamt arbeiten laut Definition der Arbeitsagentur in den Pflegeberufen wenig Spezialist:innen und Expert:innen. In der Altenpflege ist gar jede:r zweite Beschäftigte auf Helfer:innenniveau tätig, in der Krankenpflege arbeitet die überwiegende Mehrheit als Fachkraft – und das Anforderungsniveau hat Auswirkungen auf die Bezahlung.

Infografik: Anforderungsniveaus in der Pflege

Zum anderen erfolgt die Finanzierung im Gesundheitswesen nicht durch die freie Wirtschaft, sondern vor allem über die gesetzliche und die private Krankenversicherung und die Pflegeversicherung. Das heißt auch, dass die Gesellschaft zumindest anteilig für höhere Gehälter von Pflegekräften aufkommen müsste.

Zwei weitere Aspekte haben auf die Bezahlung von Pflegekräften noch heute Auswirkung: Zum einen entstammt die Pflege von Kranken und Alten in der westlichen Welt einer christlichen Tradition der Nächstenliebe, und wurde oft ehrenamtlich ausgeübt.

Und zum anderen sind in den Pflegeberufen überwiegend Frauen tätig. Bis heute werden diese auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt, wenn es um Gehälter geht, was sich auch an der Bezahlung im Pflegebereich bemerkbar macht.Vorurteile Pflege: Gender pay gap

Im gesamten Arbeitsmarkt zeigt sich der geringere Verdienst von Frauen in einem bereinigten Gender-Pay-Gap, also der Bezahlung auf derselben Karrierestufe und Stelle wie Männer, von sechs Prozent im Jahr 2018. Unbereinigt, also über alle Branchen oder Karrierestufen hinweg, verdienen Frauen hierzulande 19 Prozent oder 4,37 Euro brutto je geleisteter Arbeitsstunde weniger als Männer. Damit liegt der unbereinigte Gender-Pay-Gap deutlich höher als im EU-Durchschnitt (15 Prozent).

Das Statistische Bundesamt schreibt dazu: „71 % des Verdienstunterschieds sind strukturbedingt, also unter anderem darauf zurückzuführen, dass Frauen in schlechter bezahlten Branchen und Berufen arbeiten und seltener Führungspositionen erreichen.“

Klingt also nach einem Problem, an dem die Frauen auch ein bisschen selber schuld sind. Oder danach, dass da, wo viele Frauen arbeiten der Verdienst gering ist. Denn Strukturen sind kein Naturgesetz, sondern menschengemacht und wir als Gesellschaft sollten uns fragen, warum es Berufe und Branchen gibt, die für uns alle lebensnotwendig sind und trotzdem weniger gut bezahlt werden. Und selbst in der „Frauendomäne“ Pflege verdienen Frauen schlechter als Männer, wie die Grafik weiter oben zeigt.

Will man künftig mehr Menschen für die Pflege gewinnen, diese attraktiv machen für den Nachwuchs und anerkennen, welch hohe Verantwortung die Beschäftigten für das Wohlergehen und die Gesundheit anderer Menschen tragen, müssten die Gehälter angehoben werden.

Die Soziologin Ute Klammer von der Uni Duisburg hat gemeinsam mit Kolleginnen untersucht, was eine „faire Bezahlung“ wäre und den „Comparable Worth“-Index entwickelt, der die beruflichen Anforderungen und Belastungen von Berufen vergleicht. Ihrer Untersuchung zufolge liegen die Belastungen von Pflegekräften etwa gleichauf mit beispielsweise Ingenieur:innen. Allerdings verdienen Ingenieur:innen im Mittel ein Einstiegsgehalt von 51.000 Euro, also gut 4.000 Euro brutto monatlich. Davon sind Pflegekräfte weit entfernt.

Mythos 5: Als Pflegekraft findet man immer einen Job

Im Großen und Ganzen schon, es herrscht Pflegekräftemangel. Die Arbeitslosen-Stellen-Relation bewegt sich seit Jahren unterhalb von drei, das heißt, statistisch gesehen kommen weniger als drei Arbeitslose auf eine Stelle.Vorurteile in der Pflege: Arbeitslosenstellenrelation von Pflegekräften

In der Krankenpflege lag die Zahl im Jahr 2019 gar bei unter eins, wodurch klar wird: Die Stellen können gar nicht besetzt werden, denn es gibt nicht mal auf dem Papier für jede Vakanz eine arbeitslose Person, die sie besetzen könnte.
2020 lag die Arbeitslosen-Stellen-Relation für Krankenpflegekräfte zwischen 0,6 in Bayern und 2,43 in Hamburg. Vor allem der Süden der Republik hat also mit einem Pflegekräfteengpass zu kämpfen, wie die Grafik zeigt.

Vorurteile in der Pflege - Arbeitslosenstellenrelation je Bundesland

Etwas anders sieht es in der Altenpflege aus, wo vor allem Hilfskräfte arbeitslos sind, die ausgeschriebenen Stellen aber eine höhere Qualifikation benötigen. Im vergangenen Jahr lag die Arbeitslosen-Stellen-Relation zwischen 1,08 in Bayern und 7,11 in Bremen.Vorurteile in der Altenpflege

Insgesamt kann man sagen: In der Krankenpflege herrscht in allen Bundesländern ein Fachkräftemangel. In der Altenpflege sieht es etwas anders aus. Vor allem in den Stadtstaaten gibt es deutlich mehr Arbeitslose als ausgeschriebene Stellen.

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Vorurteile in der Pflege: Fazit

Pflegekräfte machen ihren Job gern, vor allem, weil er gesellschaftlich dringend benötigt wird und sinnvoll ist. Und Pflegeberufe sind sichere Berufe, sie werden immer gebraucht – Tendenz steigend. Auch finden Pflegekräfte in der Regel landesweit einen Job.

Aber die Bedingungen stimmen nicht. In einer Welt, in der Menschenleben das höchste Gut wären, würden Pflegekräfte zu den Bestverdiener:innen im Arbeitsmarkt gehören. In dieser Welt leben wir aber nicht. Stattdessen leben wir mit einem Gesundheitssystem, das immer profitorientierter geworden ist und seit über einem Jahr in einer Welt mit einer globalen Pandemie, die wie ein Brennglas zeigt, was in der Pflege schiefläuft.

Was wir von Corona lernen müssen (und eigentlich schon vorher längst hätten wissen müssen): Mit Menschenleben und Fürsorge sollte kein Profit gemacht werden, aber Pflege als Beruf sollte angemessen bezahlt und gute Arbeitsbedingungen möglich gemacht werden. Der Pflegeberuf muss angemessen finanziert werden als das, was er ist: Systemrelevant, lebensnotwendig, unverzichtbar für Menschen. Damit unterscheidet er sich von hochdotierten Berufen, die vor allem dem Geldbeutel einiger weniger nützen.

Menschen, die in der Pflege arbeiten, haben eine hohe intrinsische Motivation für ihre Arbeit, sie schätzen den Kontakt mit den Menschen, die sie pflegen und können ihrem Job großen Sinn abgewinnen, was zu einer hohen Arbeitszufriedenheit führt. Diese wird allerdings durch Stress, Unterbesetzung und mangelnde Anerkennung, auch in Form von Bezahlung, deutlich geschmälert.

Pflegekräfte sind systemrelevant. Ohne sie geht nichts. Es ist Zeit, das auch in den Strukturen rund um diese Berufe abzubilden.