2020 gab es in Deutschland erstmals mehr Erstsemester-Studierende an Hochschulen und Universitäten als Neu-Azubis. Natürlich hat das mit der Corona-Pandemie zu tun, denn ein Studium ließ sich digital besser umsetzen als eine praktische Berufsausbildung. Doch der Trend zeigt sich bereits seit Jahren: Die Zahl der Auszubildenden sinkt und es gibt einen Azubi-Mangel. Oft wird letzteres vor allem auf den demografischen Wandel zurückgeführt, aber gleichzeitig steigt eben die Zahl der Studierenden – es gibt sie also, diese jungen Leute, nur immer seltener im dualen Ausbildungssystem. Woran liegt das?
Status Quo: Der Ausbildungsmarkt in Deutschland
Im Jahr 2011 kamen laut Bundesagentur für Arbeit noch 106 Bewerber:innen auf 100 Azubi-Stellenausschreibung. Zehn Jahre später sind es nur mehr 84 – schon rein rechnerisch lässt sich heute also nicht jede Ausbildungsstelle besetzen. Zusätzlich bleiben viele potenzielle Azubis ohne Vertragsabschluss: 2021 kamen auf 100 unbesetzte Stellen 55 unversorgte Ausbildungsplatz-Suchende. Diese Zahl ist zwar deutlich rückläufig, 2011 waren es noch 96, aber gerade in Anbetracht des Nachwuchs-Mangels, kommen damit immer noch zu viele junge Menschen und Unternehmen nicht zusammen.
Es gibt also einerseits zu wenig Auszubildende und gleichzeitig gehen viele Bewerber:innen leer aus, während die Zahl der Studierenden steigt. Verantwortlich dafür sind viele Gründe, wir zeigen sechs davon.
1. Trend zur Akademisierung: Mehr Schüler:innen machen Abitur
Die Berufsausbildung ist traditionell ein Karriereweg für nicht-akademische Bildungsabschlüsse. Aber was, wenn die seltener werden und ein immer größerer Teil der jungen Menschen eine Hochschulzugangsberechtigung in der Tasche hat?
In Deutschland hat im Schuljahr 2019/20 rund ein Drittel der Schüler:innen Abitur gemacht – der Akademisierungstrend setzt sich (mit leichten Schwankungen) fort. Am deutlichsten rückläufig sind Hauptschulabschlüsse, wie die Grafik mit Daten des Statistischen Bundesamtes zeigt.
Gleichzeitig sinkt die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge immer weiter. Im Jahr 2020 gab es erstmals mehr Erstsemestler:innen als Auszubildende – die Zahlen nähern sich bereits seit etwa einem Jahrzehnt an.
2. Die Qual der Wahl: Immer mehr Auswahl, aber vor allem an Hochschulen
Aus über 20.000 Studiengängen und über 300 Ausbildungen haben Schulabgänger:innen die Qual der Wahl – dabei steigt die Zahl der akademischen Angebote, während die Zahl der Ausbildungsberufe sinkt.
Im Jahr 2014 konnten laut Centrum für Hochschulentwicklung die Schulabgänger:innen noch zwischen 9.400 grundständigen Studiengängen wählen. 2019 waren es bereits 10.300.
Die Zahl der Ausbildungsberufe stieg laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hingegen bis 2009 auf 349 und sank seitdem kontinuierlich bis auf 324 im Jahr 2021.
3. Unternehmen bieten weniger Ausbildungsplätze an
Insgesamt ist das Ausbildungsplatzangebot von deutschen Unternehmen innerhalb eines Jahrzehnts um 50.000 Plätze gesunken, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in seiner jährlichen Studie zu Auszubildenden schreibt. Das heißt, es gibt nicht nur weniger Auszubildende, es gibt eben auch weniger angebotene Azubi-Stellen von Unternehmen.
Das heißt, nicht nur die Zahl der Ausbildungsberufe sinkt, auch das tatsächliche Angebot an Stellen.
4. Steigende Anforderungen an Auszubildende
Wenn mehr Schulabgänger:innen ein Abitur in der Tasche haben, zieht es davon zwar viele an die Uni, aber dennoch entscheiden sich auch einige für eine Berufsausbildung und verdrängen dann junge Menschen mit geringer qualifiziertem Schulabschluss.
Eine Auswertung der Bundesagentur für Arbeit für die Jahre 2019/20 zeigt, dass für 100 Hauptschüler:innen lediglich 65 Stellen zur Verfügung standen. Bei den Abiturient:innen sind es 425.
So werden einerseits Berufe aufgewertet, andere aber stetig abgewertet. Das zeigt sich auch bei den Bewerbungszahlen. So bleiben vor allem in Berufen mit hohem Anteil an Beschäftigten mit Hauptschulabschluss die Plätze unbesetzt und die Nachfrage ist gering.
Doch selbst ein Abitur garantiert keinen Ausbildungsplatz, wie die Daten von unversorgten Bewerber:innen zeigt. 28 Prozent von ihnen haben eine Hochschulzugangsberechtigung in der Tasche.
Laut Berufsbildungsbericht der Bundesregierung liegt das vor allem an der „eher einseitigen Fokussierung von Studienberechtigten auf wenige Berufe und der stärkeren Konkurrenzsituation“ in eben diesen.
5. Anforderungen an Ausbildung: Was junge Leute wollen
Was der vorangegangene Punkt zeigt: Die Anforderungen an Arbeit haben sich verändert. Die wenigsten streben noch Berufe an, in denen schwer körperlich gearbeitet wird. Beliebt sind hingegen Berufe, die ein hohes Maß an Kreativität vorweisen, Medien sind beliebt oder die Arbeit mit Tieren – zumindest, wenn es darum geht, auf welche Stellen die meisten Bewerber:innen kommen, die leer ausgehen. Das liegt aber auch daran, dass es in den Berufen oft wenige Angebote gibt.
Laut einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) gibt fast jedes zweite Unternehmen an, leichter Azubis finden zu können, wenn diese realistischere Berufsvorstellungen hätten. Das zeigt sich auch in den Abbruchquoten der verschiedenen Ausbildungsberufe. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) hat im Jahr 2019 mehr als jede:r zweite Gerüstbau-Azubi seine Ausbildung hingeschmissen und den Vertrag vorzeitig gelöst. Bei Friseur:innen sind es fast genauso viele. Es folgen Berufskraftfahrer:innen und Gebäudereiniger:innen.
Die geringsten Vertragslösungsquoten verzeichnen Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste und Verwaltungsfachangestellte. In beiden Berufen lösten 2019 auf die vergangenen vier Jahre betrachtet nur vier Prozent der Auszubildenden ihre Verträge vorzeitig auf.
Wenn es darum geht, was junge Menschen von ihrer Ausbildung erwarten, fallen die Antworten tatsächlich eher konservativ aus: Einer Umfrage des BIBB zufolge wünschen sie sich einen potenziell langfristigen Arbeitgeber, gute Rahmenbedingungen während der Ausbildung, einen Betrieb mit gutem Image und flexible Ausbildungsmöglichkeiten.
Mit der Realität stimmen diese Erwartungen dann nicht immer überein. Laut der jährlichen Auszubildendenbefragung des DGB von 2020 wusste etwa nur rund ein Drittel der Befragten zum Zeitpunkt der Erhebung, dass sie übernommen werden.
6. Geringere Verdienstmöglichkeiten
Wer einen akademischen Abschluss in der Tasche hat, verzichtet zwar während der Lehrzeit auf ein Einkommen aus eben dieser, verdient im Verlauf des Lebens aber besser. Das zeigt eine Studie der Universität Tübingen im Auftrag des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertages aus dem Jahr 2019.
Wer sich in einem Ausbildungsberuf kontinuierlich weiterbildet und einen Meister- oder Technikertitel erlangt, liegt zwar fast gleichauf mit dem akademischen Abschluss, eine Ausbildung ohne weitere Abschlüsse bedeutet im Schnitt auf ein gesamtes Arbeitsleben gerechnet aber eine halbe Million Euro weniger Bruttoerwerbseinkommen, was wiederum eine Erklärung für den Akademisierungstrend ist.
Fazit
Der demografische Wandel wird dem Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren einiges abverlangen. Besonders die Fachkräfte werden fehlen, vor allem, wenn die Zahl der Auszubildenden weiterhin sinkt. Betriebe stehen heute in direkter Konkurrenz mit Universitäten, weil mehr junge Leute Abitur machen. Es gilt also, die Vorteile einer Ausbildung herauszustellen und vor allem Karrieremöglichkeiten aufzuzeigen. Wer sich weiterbildet, kann auch mit einer Berufsausbildung nahezu gleich viel verdienen wie ein:e Akademiker:in. Zumal ein Studium nicht für jede:n das Richtige ist. Die Stärken der dualen Berufsausbildung liegen in ihrer Praxisnähe und dem direkten Berufseinstieg, das sollte Schüler:innen frühzeitig klargemacht werden.
Insgesamt verschiebt sich auch der Ausbildungsmarkt weg vom Arbeitgeber- hin zum Arbeitnehmermarkt. Zwar sinkt auch die Anzahl der angebotenen Azubi-Stellen, die Zahl der Bewerber:innen nimmt aber noch mehr ab. Auszubildende haben also mehr Auswahl. Trotzdem fokussieren sich viele auf einige wenige Berufe. Wem die Azubis fehlen, sollte also seine Berufsbilder bekannter machen und, wie oben bereits erwähnt, die Entwicklungsmöglichkeiten in punkto Karriere hervorheben.
Was den zukünftigen Azubis außerdem wichtig ist: Ein sicherer Arbeitsplatz und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wer junge Menschen für sich gewinnen will, sollte an diesen Stellschrauben drehen – und die Azubis nicht als billige Hilfskraft ansehen. Aktuell kommen viele Azubis laut einer DGB-Studie mit ihrem Gehalt nicht hin und im Laufe ihres Berufslebens verdienen sie als Fachkräfte weniger als Akademiker:innen. Wer junge Menschen für eine Berufsausbildung begeistern will, sollte also von Anfang an das Gehalt im Auge behalten.
Eine weitere Entwicklungsmöglichkeit wäre, immer mehr Berufe zu akademisieren, um sie aufzuwerten und den immer höher werdenden Anforderungen, vor allem durch die Digitalisierung, Rechnung zu tragen. Auch so könnten Gehälter steigen und Berufe für Abiturient:innen attraktiver werden. Dann würde die duale Berufsausbildung in Betrieben und Berufsschulen zum Auslaufmodell, was den Fachkräftemangel weiter verschärfen und die Kluft zwischen Abiturient:innen und anderen Schulabschlüssen vertiefen würde.
Wie auch immer sich der Ausbildungsmarkt in Zukunft entwickelt: Junge Menschen sollten möglichst früh über ihre Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten informiert werden. Im Recruiting bedeutet das für Unternehmen, sowohl künftige Azubis, Studierende, ihre Eltern als auch Lehrkräfte anzusprechen. Junge Menschen sollten gewissenhaft ausgebildet und ausreichend bezahlt werden, um neben dem Studium attraktiv zu bleiben. Und gleichzeitig bleibt zu hoffen, dass Corona nicht noch einen Ausbildungsjahrgang schmälert.