Bundeskanzlerin Merkel bezeichnete in einer TV-Ansprache die Coronakrise als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Das Virus und die damit einhergehenden Einschränkungen beeinflussen das Privat- und Berufsleben ganz erheblich. Der Arbeitsmarkt steht vor Veränderungen und das Personalmanagement und Recruiting sollte aus vielerlei Gründen nicht aus den Augen verloren werden.
Die Wollmilchsau spricht in dieser Krise mit Unternehmen, die aufgrund hoher Auslastungen gerade jetzt verstärkt auf Bewerbersuche sind, besondere Umstrukturierungen und Maßnahmen ergreifen müssen, ihr Employer Branding umkrempeln oder sogar ihr digitales Recruiting auf links drehen, um nach dieser Zeit gewappnet zu sein. Die wirtschaftlichen Folgen der Unternehmen sind so unterschiedlich wie interessant und sollen zeigen, dass nicht alle Entwicklungen zwangsläufig negativ sind.
Die EUROIMMUN AG hat in diesen Zeiten eine ganz besondere Aufgabe gemeistert: Bereits im Januar fiel der Startschuss für die Entwicklung von Testsystemen zur Diagnostik von SARS-CoV-2-Infektionen. Um die damit einhergehende Auslastung im Unternehmen stemmen zu können, versetzten sie Mitarbeiter und lernten sie kurzerhand für neue Tätigkeiten an. Gleichzeitig verhinderten sie durch diese Maßnahmen Kurzarbeit in geschlossenen Abteilungen wie beispielsweise dem Betriebsrestaurant oder dem Kindergarten. Marie Schween gibt uns in diesem Interview einen Einblick in diese spannende Zeit bei der EUROIMMUN AG.
Personalmanagement Interview mit Marie Schween von der EUROIMMUN AG
Hallo Marie, wer seid Ihr und was genau macht Ihr? Wollt Ihr euch kurz vorstellen?
Wir, die EUROIMMUN AG, sind ein Hersteller von Labordiagnostik mit Hauptsitz in Lübeck. Unsere Aufgabe ist es, Testsysteme zu entwickeln und zu produzieren, mit denen verschiedenste Krankheiten erkannt werden können. Ergänzend dazu bieten wir Laborautomaten und Softwarelösungen an, die unsere Tests vollautomatisch abarbeiten und Laborprozesse digitalisieren. Unsere Produkte kommen weltweit zum Einsatz – in mehr als 6.000 Laboren rund um den Globus helfen sie dabei, Krankheiten schnell und zuverlässig zu diagnostizieren.
Was ist momentan die besondere Situation bei Euch im Haus und welchen Herausforderungen steht Ihr gegenüber?
Als uns im Dezember 2019 die Nachricht des neuartigen Coronavirus aus China erreichte, starteten unsere Wissenschaftler umgehend mit den ersten Vorbereitungen für bevorstehende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Kurz nachdem die genetische Sequenz des neuen Virus am 10. Januar veröffentlicht wurde, fiel der Startschuss für die Entwicklung von Testsystemen zur Diagnostik von SARS-CoV-2-Infektionen. Anfang Februar standen bereits die ersten Tests zur Verfügung, im März erhielten wir als erster europäischer Hersteller die CE-Kennzeichnung, Anfang Mai die Notfallgenehmigung der US-amerikanischen FDA.
Das ist natürlich ein großer Erfolg. Doch auf dem Weg dahin standen wir vor vielen Herausforderungen, die es zu bewältigen gab. Es mag sich so anhören, als wären wir vorbereitet gewesen. Es ging uns jedoch wie vielen anderen Unternehmen: Anfang des Jahres war nicht ansatzweise zu erahnen, was da auf uns zukommt. Mitte März ging plötzlich alles Schlag auf Schlag. Hunderte Mitarbeiter mussten von jetzt auf gleich ins Homeoffice oder fielen kurzzeitig aus, um zu Hause die Kinderbetreuung zu organisieren. Zeitgleich stieg die weltweite Nachfrage unserer Corona-Tests und Laborautomaten so stark an, dass es anfangs viel Mühe kostete, den hohen Bedarf zu bedienen. Während unsere Produktionsmitarbeiter in dieser Phase sofort auf Höchstleistung umstellten, konnten andere Kollegen ihren gewohnten Tätigkeiten nicht mehr nachgehen.
Dazu gehörten vor allem die Mitarbeiter in den Betriebsrestaurants und -kindergärten, die im Zuge des deutschlandweiten Lockdowns geschlossen bzw. auf Notbetreuung umgestellt werden mussten. An vielen Stellen im Unternehmen kämpften wir mit zwei Extremen: viel zu viel oder wenig bis gar keine Arbeit. Um dieses Ungleichgewicht aufzulösen und negative Auswirkungen wie Kurzarbeit zu vermeiden, mussten umgehend Notfallpläne und Sofortmaßnahmen her. Damit wollten wir sowohl unsere Kollegen unterstützen, als auch die Lieferfähigkeit für unsere Kunden sicherstellen.
Um Kündigungen oder Kurzarbeit zu vermeiden, habt ihr Mitarbeiter aus geschlossenen Abteilungen, wie zum Beispiel dem Betriebsrestaurant oder den Kindergärten, für Produktion, Lager oder Versand angelernt. Wie kamt Ihr auf diese Idee und wie seid Ihr da vorgegangen?
Kurzarbeit oder Kündigungen zu vermeiden, war das größte Anliegen unserer Vorstandsmitglieder. Sie ergriffen die Initiative und beauftragten das Personalmanagement, durch Querversetzungen in andere Abteilungen den betroffenen Kollegen neue Tätigkeiten zuzuweisen. Wir starteten das interne Programm „Kollegen helfen Kollegen“. Hier bauten wir zunächst einen Personalpool auf, um alle Mitarbeiter der geschlossenen Bereiche oder Abteilungen mit reduziertem Arbeitsaufkommen zu sammeln. Denn auch Letztere sollten für tage– und wochenweise Einsätze an den „Brennpunkten“ aushelfen, sofern die eigene Abteilung sie entbehren konnte.
Alle Kollegen aus diesem Pool wurden je nach Bedarf eingeteilt – und das war eine wirkliche Mammutaufgabe für das Personalteam. Zahlreiche Abteilungen forderten täglich neue Unterstützung an. Hinzu kamen die Urlaubspläne, die Kinderbetreuung oder neu eingeführte Sonderschichten, die es zu berücksichtigen galt. Wenn dann noch ein kurzfristiger Ausfall gemeldet wurde, benötigte man einen Notfallplan für den Notfallplan.
Daher war unser Personalteam auch nach Feierabend und am Wochenende erreichbar, um schnellstmöglich reagieren zu können – ein enormer Organisations- und Kommunikationsaufwand! Aber nicht nur dem Personalmanagement sei an dieser Stelle für den außerordentlichen Arbeitseinsatz zu danken, auch alle anderen Mitarbeiter haben großes Engagement und eine unglaubliche Flexibilität bewiesen. Für viele war und ist es ein regelrechtes Jobhopping – sie wissen heute nicht, wo sie morgen früh gebraucht werden. Manche Kollegen haben sogar private Termine für einen dringenden Einsatz verschoben. Das ist nicht selbstverständlich und wir wissen das sehr zu schätzen!
Wie war die Reaktion der Mitarbeiter auf diese Idee?
Sehr positiv! In den Abteilungen mit erhöhtem Arbeitspensum wurden die Maßnahmen sehr begrüßt und dankend angenommen. Aber auch die Kollegen aus dem Pool – insbesondere aus den geschlossenen Abteilungen – waren glücklich, dass ihnen eine alternative Tätigkeit geboten wurde. Etliche haben sich sogar freiwillig für einen Hilfseinsatz gemeldet und sind aus dem Homeoffice in die Produktion gegangen. Wir haben von zahlreichen Kollegen die Rückmeldung erhalten, dass sie die Tätigkeiten und Einblicke in andere Abteilungen sehr interessant fanden.
Wie schnell konntet Ihr dieses Vorhaben umsetzen?
Als Mitte März das Homeoffice, die Schließung der Gastronomie und die Notbetreuung in den Kindergärten angeordnet wurden, haben wir direkt reagiert. Bereits am darauffolgenden Tag wurden die ersten Abteilungswechsel umgesetzt. Seit knapp zwei Monaten planen die Kollegen im Personalmanagement nun von Tag zu Tag neu.
Welche Schwierigkeiten haben sich ergeben und wie konntet Ihr sie lösen?
Die größte Hürde lag darin, dass zur Ausübung einiger Tätigkeiten bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Als beispielsweise unser Logistikpartner ausgefallen ist, haben wir kurzerhand beschlossen, unsere Kunden selbst zu beliefern. Als systemrelevantes Unternehmen blieb uns keine andere Wahl, als die Versorgung aus eigenen Reihen sicherzustellen. Hier durften selbstverständlich nur Kollegen mit einem passenden Führerschein eingesetzt werden, die auch körperliche Belastungen beim Be- und Entladen auf sich nehmen konnten.
Zusätzlich mussten geeignete Fahrzeuge im Fuhrpark sowie Transport- und Arbeitsbestätigungen organisiert werden – denn plötzlich durfte man nur noch mit Genehmigung die inländischen Grenzen passieren. Oft mussten also neben der Suche nach einem „freien“ Mitarbeiter auch zusätzliche Kriterien für den reibungslosen Arbeitsablauf berücksichtigt werden.
Eine weitere Herausforderung waren unsere Raumkapazitäten, die im normalen Alltagsgeschäft gut ausgelastet sind. Da die Produktion auf das Maximum hochfahren musste, wurde mehr Platz benötigt. Auch hier war unsere Kreativität gefragt, sodass wir Räumlichkeiten kurzerhand umfunktioniert haben. So nutzen wir beispielsweise die langen Tische in unseren Betriebsrestaurants, um die Faltkartons für den Versand vorzubereiten.
Auch die besonderen Hygienevorschriften in den Arbeitsstätten erschwerten zunächst die Abläufe. Um die Standards einhalten zu können, wurden beispielsweise die Schichten umgeplant, damit die Anzahl der Mitarbeiter im Gebäude reduziert und die Abstände eingehalten werden konnten. Zusätzlich wurde in einigen Abteilungen spezielle Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt. Dies seien nur einige von vielen Beispielen. Das Wichtigste in dieser Ausnahmesituation waren zwei Dinge: Kommunikation und Teamwork! Auch, wenn die Telefonleitungen und Köpfe heiß liefen, wir konnten letztlich für alle kleinen und großen Herausforderungen eine Lösung finden.
Wie läuft/lief die Einarbeitung trotz der Corona bedingten Einschränkungen? Könnt Ihr die Mitarbeiter remote einarbeiten?
Einige unserer neuen Kollegen mussten direkt im Homeoffice starten. Unser allmonatlicher Onboarding-Day mit informativen Vorträgen und Werksführungen konnte nicht stattfinden und muss leider auch weiterhin ausfallen. Die Vorträge haben wir digitalisiert und dank unseres Patenprogramms stand den neuen Kollegen auch nach wie vor ab dem ersten Tag ein direkter Ansprechpartner zur Verfügung, der die Informationen vermittelt hat. Die Werksführungen werden wir zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Grundsätzlich hat auch die Fern-Einarbeitung mit Ablaufplänen, Aufgabenkatalogen und sehr viel Kommunikation über die digitalen Tools gut geklappt.
Die Einarbeitung der querversetzten Kollegen lief sehr unterschiedlich ab. In manchen Abteilungen bestand zur Entlastung des Fachpersonals nur ein kurzzeitiger Bedarf für einfache Aufgaben. Da reichte eine kurze Einweisung aus. Andere Abteilungen wiederum hatten einen Mindesteinsatzzeitraum vorgegeben, da die Einarbeitung umfangreicher war und sich über mehrere Tage erstreckte. Hier setzten wir dann nur Kollegen ein, die diese Vorgabe terminlich einhalten konnten.
Zudem wurde darauf geachtet, dass hauptsächlich Mitarbeiter mit Vorerfahrung in ähnlichen Tätigkeiten oder sogar einem vorherigen Einsatz in der Abteilung eingeplant wurden. Insbesondere in den Laboren war dies der Fall. Das hat die Einarbeitung erheblich vereinfacht. Grundsätzlich lief das Anlernen überall problemlos ab, da die Kollegen ihren Helfern sehr viel Aufmerksamkeit und Unterstützung gegeben haben.
Was für Learnings zieht Ihr aus dieser aktuellen Krisensituation für Euer Unternehmen und welche positiven Effekte gibt es vielleicht sogar?
Große Fortschritte haben wir hinsichtlich des mobilen Arbeitens gemacht und hieraus bereits Lerneffekte gezogen. Die letzten Monate haben gezeigt, dass wir mit Homeoffice und Online-Konferenzen gut und erfolgreich arbeiten können. Des Weiteren wurde an manchen Arbeitsabläufen Optimierungsbedarf erkannt. So hat beispielsweise einer unserer Tischler während seines Einsatzes in der Fertigung eine Idee zur Erleichterung eines Arbeitsprozesses gehabt und den Kollegen kurzerhand ein neues Arbeitsmittel dafür gebaut.
Den größten positiven Effekt hatte die Situation aber wohl auf den Mitarbeiterzusammenhalt. Die gegenseitige Unterstützung und Hilfsbereitschaft hat uns zusammengeschweißt und gezeigt, wie viel wir gemeinsam erreichen und welche Ausnahmesituationen wir als Kollegium bewältigen können. Durch die Einsätze in verschiedenen Abteilungen ist eine Form von „Jobrotation“ entstanden, die den Mitarbeitern viele interessante Einblicke in die Tätigkeit ihrer Kollegen ermöglicht hat.
Einige haben es sogar als das bislang größte, interne Weiterbildungsprogramm bezeichnet. Man hat sich nicht nur gegenseitig für neue Projekte inspiriert, es ist an vielen Stellen auch mehr Verständnis und eine ganz neue Anerkennung für die Arbeit in anderen Abteilungen entstanden.
Aber auch die Wertschätzung für EUROIMMUN als Arbeitgeber wurde gestärkt. Wir alle sind dankbar für die Unterstützung, die wir erhalten haben und die erleichternde Erkenntnis, dass wir auch in Krisenzeiten einen sicheren Arbeitsplatz haben. Es macht uns stolz, dass wir gemeinsam einen großen Beitrag zur weltweiten Gesundheit leisten.
Vielen Dank für das Interview zum Personalmanagement, Marie!
Wer sich für weitere Interviews mit Unternehmen und ihre besonderen Recruiting-Maßnahmen in der aktuellen Situation interessiert, findet das Interview mit Katharina Nolden vom Klinikum Region Hannover nur einen Klick weit entfernt.