KI Substitueirbarkeit Studien Jobkiller vs Productivity
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KI: Jobkiller oder Produktivitätsbooster? Substituierbarkeitsstudien im Überblick

tl;dr:

Die Automatisierung und Künstliche Intelligenz (KI) verändern die Berufswelt. In Deutschland wird das Substituierbarkeitspotential von Berufen seit 2013 untersucht, während in den USA die „AI Occupational Exposure“ (AIOE) Methode ähnliche Entwicklungen analysiert. KI beeinflusst inzwischen verstärkt auch höher qualifizierte Berufe. Talent Acquisition-Strategen sollten diese Entwicklungen genau beobachten, da langfristige Personalplanung zunehmend von KI-getriebenen Effizienzsteigerungen betroffen sein wird.

Update: Neue Studien findet ihr hier (Stand 2025)

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KI und die Berufswelt

Large Language Models (LLM) wie ChatGPT & Co. sind ca. Anfang 2023 im Mainstream angekommen. Bereits vor dieser Welle widmete sich die Wissenschaft der Frage, welche Auswirkungen Technologie, Automatisierung und Künstliche Intelligenz (KI) auf die Berufswelt ausüben würden. Welche Berufe können wahrscheinlich automatisiert, effizienter gemacht bzw. ersetzt werden?

Es ist keine neue Frage. Zum Einen, weil die Wirtschaft sich immer in Richtung von Effizienz- und Produktivitätssteigerung bewegen möchte und muss.  Zum Anderen, weil der demographische Wandel und die daraus resultierende Verschiebungen auf dem Arbeitsmarkt keine andere Wahl lassen. In diesem Kontext sind einige Konzepte bzw. Forschungsinitiativen zur systematischen Erfassung solcher Potentiale entstanden. Wer in der strategischen Talent Acquisition unterwegs ist, sollte davon gehört haben. Denn die langfristige Personalplanung eurer Unternehmen ist im erheblichen Maße von der technologischen Entwicklung betroffen.

Das Substituierbarkeitspotential in Deutschland

So wird z. B. in Deutschland bereits seit 2013 das sogenannte „Substituierbarkeitspotential“ als Kennzahl der „technischen Machbarkeit“ von ca. 4.600 Berufen erhoben. In dem aktuellen IAB-Bericht „Folgen des technologischen Wandels für den Arbeitsmarkt“ können wir die Veränderung dieser Einschätzung in den letzten ca. 10 Jahre für ausgewählte Berufssegmente nachvollziehen.

Substituierungspotential nach Berufssegmenten 2013 bis 2022
Quelle: „Folgen des technologischen Wandels für den Arbeitsmarkt“, IAB-KURZBERICHT (05|2024), p.4.

Es ist natürlich interessant, welche Segmente ein besonders hohes Substituierbarkeitspotential aufweisen. Gleichzeitig ist es wichtig zu beachten, wo sich die Dynamik mit der Zeit beschleunigt. Denn dies zeugt davon, dass technologische Entwicklungen die ursprünglichen Erwartungen überholen können. „Handelsberufe“ oder „Verkehrs- und Logistikberufe“ stellen nach meiner Interpretation der obigen Auswertung ein solches Beispiel dar.

AI Occupational Exposure (AIOE): Ein Blick auf die USA

Als nächste Frage drängt sich auf, wie der KI-Sprung der letzten zwei Jahre die Erwartungen verändert. Als Ansatzpunkt bietet sich im Augenblick die aus den USA stammende „AI Occupational Exposure (AIOE)“ Methode von Felten et al (2018, 2021) an. In einem aktuellen Paper, „How will Language Modelers like ChatGPT Affect Occupations and Industries?“(03.2023), stellen die Autoren ihre Prognosen im Hinblick auf Ersetzbarkeit/Ergänzbarkeit (Exposure kann beides meinen) für Berufe und Branchen vor und nach dem Start von OpenAI, ChatGPT & Co. gegenüber.

Top 20 Occupations Exposed to AI
Quelle: „How will Language Modelers like ChatGPT Affect Occupations and Industries?“, Felten et al., (2023), p.14.

Hier bestätigt sich der Eindruck, dass technologische Entwicklungen bzw. Sprünge die ursprünglichen Annahmen innerhalb kürzester Zeit erheblich verändern können. Die beiden Top-20 der Berufe zeigen nicht sehr viele Übereinstimmungen.

Die Zusammensetzung der aktuellen Top-20 lässt die Hypothese zu, dass Large Language Models gerade im Ausbildungsbereich einen größeren Hebel entfalten. Vor 2-3 Jahren sah man diese Entwicklung so nicht kommen. Meine Vermutung ist einfach, dass die heutigen „sprachlichen Fähigkeiten“ und das „Allgemeinwissen“ der Modelle (auf Lehrerniveau) damals noch unvorstellbar schienen. Etwas Mathe, Logik und Standardprozedere schienen dagegen realistischer (Bsp. Financial Examiners).

 

 

Top 20 Industries Exposed to AI
Quelle: „How will Language Modelers like ChatGPT Affect Occupations and Industries?“, Felten et al., (2023), p.15.

Der Blick auf die Branchen zeigt trotz einiger Ranking-Verschiebungen keine so deutlichen Unterschiede. Wir sind offenbar noch nicht soweit, dass komplette branchentypische Prozesse umgeworfen werden, was aktuell eher auf der Ebene der einzelnen Berufe passieren kann.

Vergleich zwischen Deutschland und den USA

Leider lassen die etwas unterschiedlichen Perspektiven der vorgestellten Analysen, USA – AIOE (Berufe und Branchen) und Deutschland – Substituierbarkeitspotential (Berufssegmente), keinen direkten Vergleich zu. Man könnte ein wenig an der Haaren herbeiziehen, dass (Fertigung außenvor) die deutschen Berufssegmente mit hohem Substituierbarkeitspotential (z. B. Handelsberufe, Unternehmensführung- und Organisation, Dienstleistungsberufe) recht gut in den high AIOE Branchen Platz finden (Legal, Insurance, Agencies, Financials).

Unabhängig davon allerdings ist man sich in Deutschland und in den USA bei einer Erkenntnis sehr einig.

„Neu ist, dass der Anstieg des Substituierbarkeitspotenzials zwischen 2019 bis 2022 umso stärker ausfällt, je höher das Anforderungsniveau ist. Besonders groß war er mit fast 10 Prozentpunkten in den Expertenberufen.“, (IAB-Kurzbericht 5|2024, p.2).

„There appears to be a strong positive correlation between our language modeling AIOE score and mean or median wages in an occupation. In other words, occupations with higher wages are more likely to be exposed to rapid advances in language modeling from products such as ChatGPT or others. Given that the most exposed occupations appear to be white-collar occupations that may be likely to be classified as “highskilled” labor, this is perhaps not surprising.“, (Felten et al. 2023, p.7).

Bezogen auf den Fachkräftemangel dürfte das schon mal keine schlechte Nachricht sein. Gleichzeitig wird hier die gesellschaftliche Tragweite der aktuellen Phase der technische Disruption deutlich. Während wir in den vergangen Jahrzehnten (muss man sagen) absolut unaufgeregt der Steigerung des Automatisierungsgrades der Fertigung, sprich der Substituierbarkeit der niedriger qualifizierten Arbeit, zugesehen haben, kommt der Wandel nun in den höheren Bildungsetagen an. Die „Freude“ darüber ist bei LinkedIn zuletzt nicht zu überhören. 🙂 Aber das ist ein Thema für einen anderen Post.

Ein Praxisbeispiel: Was bedeutet „mittleres“ Substituierbarkeitspotential?

Die Talent Acquisition Strategen unter uns sollten eh weniger bei LinkedIn abhängen, sondern mehr in dem „Strukturwandel nach Berufen“ Dossier der Bundesagentur für Arbeit. Dort findet man eine ganze Menge Daten für tiefergehende qualitative Analysen im Kontext des Substituierbarkeitspotential oben vorgestellter Berufssegmente und des Arbeitsmarktes in Deutschland insgesamt.

Berufsstruktur aktuell Substituierungspotential
Quelle: „Strukturwandel nach Berufen“, Deutschland, Gebietsstand: Januar 2024, Berichtsjahr: 2023 Anforderungsniveau: Insgesamt, Indikator: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (SvB), Ausgewählter Indikator nach Substituierbarkeitspotential (SubP).

Ich stelle mir z. B. direkt die Frage, was in dieser Darstellung „mittleres“ Substituierbarkeitspotential in der Praxis bedeutet. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung definiert die Stufen so:

„Dabei gilt das Substituierbarkeitspotenzial als niedrig, wenn der Anteil an Tätigkeiten, der durch Computer oder computergesteuerte Maschinen erledigt werden könnte, bei höchstens 30 Prozent liegt; mittel, wenn dieser Anteil zwischen 30 und höchstens 70 Prozent liegt; und hoch, wenn es mehr als 70 Prozent beträgt.“, (IAB-Kurzbericht 5|2024, p.7).

Demnach üben laut der oberen Abbildung 75% der Beschäftigten in Dienstleistungsberufen (der zweite orangene Balken von oben „S2-S5“) Aufgaben aus, die zu mindestens 30% automatisierbar sind. Diese 30% hören sich natürlich zunächst recht abstrakt an. Wie kann man sich diese 30, 40, 50, 60, 70% praktisch vorstellen?

Nun, nach meinem Verständnis zerlegt man einen Beruf in seine einzelnen Tätigkeiten und prüft, welche wie gut automatisierbar sind. Dann wird alles zusammengezählt. Ich hoffe, ich habe das Verfahren vom folgenden plastischen Beispiel (Kellner) korrekt abgeleitet.

Automatisierungspotenzial der Tätigkeiten des Berufsprofils Kellner
Quelle: „Automatisierungspotenzial der Tätigkeiten des Berufsprofils Kellner*in“,  FutureHotel – Employee Profiles, Borkmann et al. 2021, p.130 in „Substituierbarkeits- und Automatisierungspotenziale touristischer Berufe“, Bayerisches Zentrum für Tourismus, Alicia Storch, 2023.

Das Automatisierungspotential des Kellner-Berufs liegt hier bei 65%. Und wenn Automatisierungspotential und Substituierbarkeitspotential ein paar Schuhe sind, ist das hier ein gutes Beispiel für „mittleres“ Substituierbarkeitspotential nach IAB (da zwischen 30% und 70%). Und wie würde euer Job in diesem Kreis aussehen…? 🙂

Studie:
Der Arbeitsmarkt 2023 in Zahlen
Jetzt kostenlos unsere Studie herunterladen!

Weiterführende Lektüre und ein Ausblick

Mit den beiden vorgestellten Methoden, Substituierbarkeitspotential und AI Occupational Exposure (AIOE), habt ihr in der aktuellen Diskussion bzgl. Effektivität von KI, Hoffnungen und Realität, schon mal zwei solide Orientierungspunkte. In unserem letzten Post haben wir übrigens anhand eines sehr simplem Beispiels (Transkribieren von Bewerbungsgesprächen) gezeigt, wie die theoretische KI-Adaption ganz schnell und greifbar in der täglichen Praxis ankommen kann.

Wenn ihr euch noch tiefer in die theoretischen und praktischen Auswirkungen Generativer KI auf den Arbeitsmarkt einlesen wollt, ist das Paper der International Labor Organization (ILO) zu den globalen Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte sehr empfehlenswert. Nach eingehender Abwägung und dem Vergleich mit ähnlichen Studien kommt es zu dem Schluss, dass

“most jobs and industries are only partially exposed to automation and are thus more likely to be complemented rather than substituted by AI”.

Und falls ihr dann immer noch nicht genug habt, rundet die großartige Lektüreliste der Arbeitsmarktprofis der Weltbank – „What we’re reading about the age of AI, jobs, and inequality“ den Ausflug in den aktuellen „Stand der Technik“ ab. 

Fest steht, es bleibt spannend und jeder darf und sollte selbst in die Glaskugel schauen und sich eine Meinung bilden.

UPDATE: Neue Studien zur Substituierbarkeit

IAB-Studie: Substituierbarkeit in Berlin und Brandenburg

Während frühere Analysen vor allem einfache Routinetätigkeiten im Blick hatten, zeigen aktuell Studien, dass generative KI inzwischen auch viel komplexere Aufgaben und Jobs beeinflusst. Eine aktuelle IAB-Auswertung kommt zu dem Ergebnis, dass das Substituierbarkeitspotenzial insbesondere in Expert:innenberufen stark gestiegen ist. Vor allem in IT- und naturwissenschaftlichen Dienstleistungsberufen (z.B. Softwareentwickler*in.

Interessant sind hier auch die regionalen Unterschiede: In Berlin liegt das Substituierbarkeitspotenzial in vielen Segmenten etwas niedriger als in Brandenburg. Das liegt vor allem daran, dass es in Berlin weniger Berufe mit hohem Routineanteil (dazu zählen z.B. Fertigung oder Logistik) gibt. Gleichzeitig ist der Anstieg bei den Expert:innen in Berlin stark ausgeprägt, was zum großen Teil auf die hohe Zahl an Softwareentwickler*innen zurückzuführen ist.

Tätigkeiten wie Programmieren, Übersetzen oder Mediengestaltung können mittlerweile zumindest in Teilen automatisiert werden. Dafür gibt es aber auch neue Rollen und Jobprofile, wie zum Beispiel das Prompt Engineering, das es zuvor gar nicht gab.

Quelle: IAB 

US-Daten: Junge Berufseinsteiger*innen seltener beschäftigt

Noch deutlicher wird die Verschiebung in Amerika. Hier gibt eine US-Studie von Brynjolfsson, Chandar und Chen Aufschluss über die aktuellen Auswirkungen von KI auf den Jobmarkt. Anhand von Daten einer der größten HR- und Payroll-Software, kann man erkennen, dass insbesondere Berufseinsteigerinnen (22–25 Jahre) in KI-exponierten Jobs (wie z.B. Softwareentwicklung oder Kundenservice) seit Ende 2022 deutlich seltener beschäftigt wurden.

Ältere Kolleg:innen sind davon weit weniger betroffen. Man geht davon aus, dass Künstliche Intelligenz standardisiertes und erlerntes Wissen leichter ersetzt als Erfahrungen. Bedeutet: Erfahrungswissen lässt sich wesentlich schwerer automatisieren als das reine Informationswissen, das Berufseinsteiger nach ihrer Ausbildung haben.

Quelle: Stanford University

McKinsey-Studie: Prognose zu einem Produktivitätsschub mit Risiken

Parallel dazu betont eine McKinsey-Studie die wirtschaftliche Dimension: Generative KI könnte jährlich bis zu 4,4 Billionen US-Dollar an zusätzlichem Wert schaffen. Das gilt vor allem für Bereiche wie Marketing, Kundenservice, Softwareentwicklung und Forschung.

Künstliche Intelligenz könnte damit insgesamt bis zu 70 Prozent der heutigen Arbeitszeit technisch automatisierbar machen. Was erschreckend und beeindruckend zugleich klingt, ist allerdings auch nur für eine Gesellschaft und Wirtschaft tragbar, wenn gleichzeitig Beschäftigte umgeschult werden.

Um dieses Produktivitätsversprechen umsetzen zu können, müssten Arbeitnehmer:innen mit Hilfe von Unternehmen (und im besten Fall dem Staat) im großen Stil neue Kompetenzen aufbauen.

Quelle: McKinsey & Company 

Und wo wir gerade bei dem Thema Umschulung sind: KI ist kein Allheilmittel.

So vielversprechend solche Produktivitätsgewinne auch klingen mögen: Die Realität kommt häufig noch nicht hinterher. Negativbeispiele wie Klarna oder Workday zeigen, dass eine zu schnelle Einführung von KI auch schief gehen kann.

Klarna setzte zum Beispiel eine hohe Anzahl an Mitarbeitenden im Kundenservice vor die Tür, um sie von KI-gestützten Systemen ersetzen zu lassen. Klarna konnte zwar kurzfristig hohe Kosten einsparen, verärgerte aber gleichzeitig auch viele Kund:innen, weil die Qualität der Interaktion und Kommunikation im Kundenservice deutlich schlechter war.

Workday musste ebenfalls zurückrudern, nachdem ihre KI-Experimente im Recruiting zu intransparenten und diskriminierenden Entscheidungen führten.

Was wir daraus lernen: Zu schnelle und im schlimmsten Fall noch unbegleitete Einführungen ohne klare Strategie können zu Image- und Effizienzschäden führen, anstatt Vorteile zu schaffen.

Was bedeutet das fürs Recruiting?

Besonders im Recruiting steht so viel auf dem Spiel. Erst kürzlich prophezeite der CEO von Perplexity, dass Recruiter:innen bereits in sechs Monaten keinen Job mehr haben werden, weil KI ihn komplett übernommen hat. In unseren Augen völlig realitätsfern!

Natürlich verändert KI die Rolle von Recruiter:innen, aber sie macht sie auf gar keinen Fall überflüssig. Recruiter:innen müssen sich stärker als Recruiting Business Partner positionieren. Beratend, datenkompetent und mit einem klaren Verständnis vom Arbeitsmarkt und der gesamten Unternehmensstrategie, wird keine KI so schnell am HR-Thron rütteln.

Sinnvoll eingesetzte KIs benötigen Menschen, die diese Technologien klug steuern und nutzen, sie kritisch begleiten und in ihre bereits bestehenden, funktionierenden Prozesse einbinden.

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